Auch an diesem frühen Septembermorgen – wenige Tage vor seinem offiziellen Abschied am Monatsende – steht der eine oder andere schon vor den gläsernen Türen der Diakonie an der Segelckestraße im City-Center von Cuxhaven. „Es gibt so viele, die mit drückenden Sorgen ihren Alltag bestreiten müssen“, sagt Jörg Moritz und spricht unter anderem von Leuten, die nicht einmal das Geld hätten, ihren Kühlschrank zu füllen, geschweige denn Stromrechnungen zu begleichen oder eine bezahlbare Wohnung zu finden. Davon seien Einheimische ebenso betroffen wie Asylsuchende. „Das hält sich bei uns die Waage, wenngleich sichtbare Armut in der jüngsten Vergangenheit deutlich zugenommen hat“, weiß der 66-Jährige aus zahlreichen Begegnungen mit Betroffenen. Sie alle hat Moritz ebenso lebenspraktisch unterstützt, wie die, die als Schutzsuchende aus fernen Ländern schier unüberwindbare Verständnisprobleme hatten beim Ausfüllen von Formularen fürs Jobcenter oder für die Sozialbehörde der Landkreis-Verwaltung.
"Oft genug fließen während solcher Sitzungen reichlich Tränen"
„Es ist wichtig, dass man zuhören kann“, sagt der studierte Religionspädagoge. Sein jeweiliges Büro – seit 2021 befindet es sich in der Segelckestraße – ist deshalb stets „der geschützte Raum, den es braucht, damit die Menschen ihren Gefühlen freien Lauf lassen und von sich erzählen können“. Oft genug fließen während solcher Sitzungen reichlich Tränen. „Die kleine Schachtel hier ist ein wichtiges Utensil“, sagt Moritz und verweist auf eine Box mit Kosmetiktüchern auf seinem Schreibtisch. Aber genau so verstehe er sein überwiegend seelsorgerisches Tun. „Ich will die Menschen auffangen und aufbauen, um sie in die Lage zu versetzen, sich schließlich selbst helfen zu können.“
"Die Zeit in Italien war eine ganz besondere"
Vor seinem Start bei der Diakonie in Cuxhaven am 1. August 2015 hat Moritz unter anderem 5 Jahre lang bei der Seemannsmission in Hamburg gearbeitet - direkt neben der Reeperbahn - davor 7 Jahre bei den Kollegen der Seemannsmission in Bremerhaven und 10 Jahre im italienischen Genua. „Die Zeit in Italien war eine ganz besondere“, sagt er und schwärmt vom mediterranen Klima und den Einwohnern, die anders seien als hier. Seine erste berufliche Etappe nahm der überzeugte Pazifist und Kriegsdienstverweigerer seinerzeit im nordrhein-westfälischen Soest, wo er sich überwiegend um die evangelische Jugendarbeit in sieben Kirchengemeinden gekümmert hat. Das ist lange her.
Für ihn ist Jesus "ein Mensch zum Anfassen"
„Ich habe schon so einiges gesehen, bin viel rumgekommen“, bilanziert der Mann mit dem grauen Vollbart, dem ein unerschütterliche Glaube an „Jesus als Mensch zum Anfassen“ allzeit die Kraft gegeben hat, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen. „Zwischen Jericho und Jerusalem liegt der Weg der Barmherzigkeit, er ist steil und mühsam und unbequem“, zitiert Moritz aus einem alten Kirchenlied, das sein Religionslehrer („ein beindruckender Mann“) während des Unterrichts in seiner Jugend behandelt habe. „Diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und bis heute ein wichtiger Leitspruch meines Handelns geblieben“, erzählt er.
"Kirche kann in der Gesellschaft etwas bewegen"
Dass Kirche nicht nur Botschaften des Glaubens verkündet, um die Menschen zu stärken und geistlich zu erbauen, sondern auch gesellschaftlich Position beziehen muss, ist Jörg Moritz schon früh klargeworden. Bei Friedensdemonstrationen in 80er Jahren zum Beispiel oder bei verschiedenen Kirchentagen – unter anderem 1983 in Hannover. Bei einer Podiumsdiskussion über die damalige Terror-Organisation RAF und die Rolle des Staates hat Moritz für sich erkannt, dass Kirche durch den Einsatz der ihr angeschlossenen Menschen „in der Gesellschaft etwas bewegen kann“.
Ein freudiges Wiedersehen nach drei Jahren
Glücksmomente während seiner aufreibenden Arbeit erlebt Jörg Moritz auch. „Wenn etwas geklappt hat“, sagt er und erzählt von dem alleinlebenden syrischen Mann, der ihm unter Tränen berichtet hatte, dass seine Frau und seine drei Töchter noch in Syrien leben würden, er aber aus politischen Gründen schnellstens Syrien habe verlassen müssen. Nun, nach drei Jahren, hätten die Behörden die Ausreise seiner Familie erlaubt, aber er wüsste nicht, wie er sie aus Hannover vom Flughafen abholen könnte. „So sind wir dann in aller Frühe mit dem Bus der Litauenhilfe nach Hannover gefahren“, erinnert sich Moritz. „Die Wiedersehensfreude war riesig.“ Aus den kleinen Töchtern seien mittlerweile junge Damen geworden, die sehr fleißig die deutsche Sprache gelernt und tolle Schulabschlüsse erreicht hätten. „Es freut mich sehr, dass ich der Familie auf ihrem Weg helfen konnte und sie hier in Cuxhaven angekommen sind.“
Vertrauensvolle Zusammenspiel mit den Behörden ist wichtig
„Solche Dinge gelingen nur im vertrauensvollen Zusammenspiel mit den Behörden“, weiß Moritz und verbucht die gewachsene Kommunikationsbereitschaft mit der Ausländerbehörde, die früher nur streng nach Aktenlage entschieden hätte als einen Erfolgsbaustein seines Wirkens. „Hier ist über die Jahre großes Vertrauen entstanden, die Wege sind deutlich kürzer geworden, was letztlich den Betroffenen nutzt.“
In der "neuen" Freizeit sind auch Reisen nach Italien geplant
Auch nach seinem Ausscheiden will Jörg Moritz der Diakonie Cuxland als Kirchenkreissozialarbeiter erhalten bleiben. Einmal in der Woche wird er am Standort in Bad Bederkesa zur Stelle sein. „Auch hier leben Menschen, die Hilfe benötigen." Und was er in der Freizeit unternehmen werde, das wisse er auch schon genau. Um den großen Garten und das Haus wolle er sich kümmern, ebenso um seinen Vater, "der mittlerweile auch schon 94 Jahre alt ist“. Und dann bliebe da noch die Sehnsucht nach Genua. „Ich werde mit meiner Frau Annette sicherlich des Öfteren nach Italien fahren, um Freunde zu besuchen oder einfach nur die Seele baumeln zu lassen“, erzählt Moritz und lächelt kurz. Viel Zeit für derlei Gedanken bleibt ihm an diesem Septembermorgen nicht. Vor den gläsernen Türen der Diakonie wartet schon der nächste, der seine Hilfe sucht.